Der Naturforscher Alfred R. Wallace (1823 – 1913) ist vor allem als Mitbegründer der Evolutionstheorie bekannt, die er parallel zu Charles R. Darwin (1809 – 1882) entwickelte. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit war er auch ein sozialer Aktivist, der das ungerechte soziale und wirtschaftliche System im Großbritannien des 19. Jahrhunderts kritisierte. Und er dachte auch über die Möglichkeit von Menschen auf dem Mars und unsere Stellung im Universum nach. Was weniger bekannt ist, ist sein Interesse an übernatürlichen und spirituellen Themen. Diese Seite von Wallace, die vielen seiner wissenschaftlichen Zeitgenoss*innen wie ein Widerspruch erschien, war tatsächlich tief in seiner Persönlichkeit und seinem Weltbild verwurzelt. Er verband die Evolution mit dem Spiritismus und versuchte, die Evolution und die evolutionäre Ethik mit einer spiritistischen Teleologie (griech. télos ,Zweck‘) zu verstehen. Diese Version der Evolution, die eine Zielrichtung vorschreibt, ist ein typisches Beispiel für die nicht-darwinistische Evolution, die in der Ideologie des viktorianischen Englands verwurzelt war und dazu diente, den Materialismus des Darwinismus zu vermeiden. Hier betrachten wir Wallaces Werdegang im Bereich des Spiritismus, die Gründe für seine Faszination sowie die Auswirkungen dieses Interesses auf sein Leben und seine wissenschaftliche Reputation.
Alfred Russel Wallace (etwa 1895) (Public Domain).
Wallace war von Natur aus neugierig und hinterfragte etablierte Meinungen und Erklärungen. Diese Neugier trieb ihn nicht nur in den Dschungel Südostasiens und Südamerikas, wo er bahnbrechende Entdeckungen in der Biologie und Geografie machte, sondern auch in die Welt des Spiritismus. Er glaubte, dass Spiritismus und Wissenschaft vereinbar seien und dass die Untersuchung übersinnlicher Phänomene auf methodische Weise erfolgen könnte. Für Wallace war die spirituelle Dimension des Lebens ebenso real wie die materielle Welt, und er sah es als seine Aufgabe an, das Übersinnliche wissenschaftlich zu untersuchen.
1844 besuchte er eine Vorlesung bzw. Demonstration über Mesmerismus, einer Lehre bzw. Therapie des deutschen Arztes Franz A. Mesmer (1734 – 1815), die auf einem „animalischen Magnetismus“ aufbaut. Zu diesem frühen Zeitpunkt gab es nur wenige, die an den Mesmerismus glaubten; sogar in der wissenschaftlichen und medizinischen Gemeinschaft herrschte die Meinung vor, dass es sich um einen Schwindel handelte. Er besuchte die Vorlesung als Ungläubiger, doch er stellte kurz darauf fest, dass er in der Lage war, die gleichen Effekte, die er auf der Bühne beobachtet hatte, bei Personen seiner Wahl hervorzurufen. Er führte mesmeristische Studien an Student*innen in Leicester mit „beträchtlichem Erfolg“ durch. So wurde er schließlich ein erfahrener Praktiker dieser Kunst. Seine Arbeiten wurden von seinen Kolleg*innen jedoch scharf kritisiert, aber Wallace verband den Mesmerismus mit dem Spiritismus. Sein Leben lang behielt er den Glauben an Paraphänomene und verwarf alle Gegenbeweise der Skeptiker*innen.
Wallace befasste sich auch zeitweise mit der Phrenologie, die versprach, eine direkte Verbindung zwischen Gehirnstrukturen und Charaktereigenschaften aufzuzeigen. Wallace zog die Phrenologie in seiner frühen Karriere in Betracht, als er auf der Suche nach Erklärungen für die Vielfalt und Komplexität des menschlichen Verhaltens und Denkens war. Er meinte, dass sie – trotz ihres stark vereinfachenden Ansatzes – wertvolle Hinweise zur Evolution und Entwicklung des menschlichen Geistes bieten könnte. Er war bestrebt, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Disziplinen wie Biologie, Psychologie und Philosophie zu finden, und sah in der Phrenologie eine Möglichkeit, das Verständnis für die Evolution des menschlichen Bewusstseins zu erweitern. Mit der Zeit begann Wallace jedoch, die Phrenologie zu hinterfragen. Durch seine Beobachtungen und Forschungen in der Natur erkannte er, dass die Theorie einer strikten Verbindung zwischen Schädelstruktur und Charaktereigenschaften nicht haltbar war. Die Phrenologie war in ihren Annahmen zu grob und zu wenig differenziert, um den komplexen Mechanismen des menschlichen Verhaltens gerecht zu werden. Zudem ergaben sich bei wissenschaftlichen Tests zahlreiche Widersprüche, die die Glaubwürdigkeit der Phrenologie stark beeinträchtigten. Wallace, der stets ein genauer Beobachter und methodisch denkender Wissenschaftler war, erkannte die Grenzen der Phrenologie und distanzierte sich allmählich davon.
Im Jahr 1853 hat britische Regierung die Pockenimpfung verpflichtend für Kinder gemacht. Seinerzeit war die Keimtheorie neu und noch lange nicht allgemein anerkannt und niemand wusste genug über das menschliche Immunsystem. So wurde Wallace auch zum Impfgegner. Ursprünglich betrachtete er das Thema als eine Frage der persönlichen Freiheit, doch nachdem er die von Impfgegner*innen vorgelegten Statistiken studiert hatte, begann er, die Wirksamkeit der Pockenimpfung in Frage zu stellen. Er entdeckte Fälle, in denen Impfbefürworter*innen fragwürdige, in einigen Fällen sogar völlig falsche Statistiken zur Untermauerung ihrer Argumente verwendet hatten. Wallace war schon immer misstrauisch gegenüber Autoritäten, und vermutete, dass Ärzte ein persönliches Interesse daran hatten, die Impfung zu fördern. Er glaubte außerdem, dass Impfungen weniger wirksam waren, als behauptet und führte den Rückgang der Pocken auf allgemeine Verbesserungen in der Hygiene, den Lebensbedingungen und der Ernährung zurück. In seinen späteren Schriften versuchte er, Statistiken zu präsentieren, die den Standpunkt der Impfkritiker*innen unterstützten. Dabei unterstellte er der britischen Regierung und dem medizinischen Establishment, Impfstatistiken manipuliert zu haben, um die Wirksamkeit der Impfungen zu übertreiben und mögliche Risiken zu verschweigen. Wallace hielt die Impfpflicht für einen Eingriff in die Natur, die er als „grundsätzlich weise“ betrachtete, was zu seiner Überzeugung beitrug, dass der menschliche Körper Krankheiten eigenständig bekämpfen könne. Seine Impfgegnerschaft sorgte für erhebliche Kontroversen und schadete seinem wissenschaftlichen Ansehen. Viele seiner Kolleg*innen, die seine Leistungen in der Evolutionstheorie und der Biologie schätzten, distanzierten sich von ihm aufgrund seiner kritischen Haltung zur Impfung. Wallaces Impfkritik wurde von seinen Gegner*innen als unwissenschaftlich betrachtet, und sein Name wurde in der Öffentlichkeit zunehmend mit unkonventionellen und kontroversen Ansichten assoziiert. 1890 sagte Wallace vor einer königlichen Kommission aus, doch diese stellte Fehler in seinen Aussagen fest, darunter einige fragwürdige Statistiken. Die Zeitschrift The Lancet behauptete, dass Wallace und andere Aktivist*innen bei der Auswahl ihrer Statistiken selektiv vorgingen. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass die Pockenimpfung wirksam war und weiterhin verpflichtend sein sollte, empfahl jedoch einige Änderungen an den Verfahren, um die Sicherheit zu erhöhen, und dass die Strafen für Personen, die sich weigerten, weniger streng sein sollten. In einem späteren Pamphlet wiederholte er seine Fehler erneut. Heutige Impfgegner*innen haben meines Wissens noch nie Wallace zitiert.
Wallace begann seine Auseinandersetzung mit dem Spiritismus in den 1860er Jahren, indem er an Séancen teilnahm, bei denen er Zeuge von spirituellen Phänomenen wie Materialisierungen, Tischrücken und automatischem Schreiben auf Schiefertafeln wurde. Er beobachtete und protokollierte die Ereignisse bei Séancen sehr genau. Fasziniert von diesen Ereignissen, war er bald davon überzeugt, dass es sich nicht nur um Scharlatanerie handelte, sondern dass hier echte, wissenschaftlich überprüfbare Phänomene stattfanden. Wallace begann jede neue Untersuchung mit einer gründlichen Literaturrecherche, so auch hier. Er las alles, was er in die Finger bekam, wodurch er nicht nur von den Aufzeichnungen über angebliche Kontakte mit Geistwesen, sondern auch von der Bedeutung solcher Phänomene für die philosophischen, historischen und moralischen Lehren der Bewegung erfuhr.
Wallace führte auch mit dem Medium, Trickbetrüger und Scharlatan Henry Slade (1836 – 1905) Experimente durch und war von den Resultaten fasziniert. Er besuchte einige Sitzungen des schottischen Zauberkünstlers Daniel D. Home (1833 – 1886), der als eines der bedeutendsten Psychokinese-Medien des viktorianischen Englands galt. Home war für seine angeblichen Levitationen und Materialisationen berühmt. Im Buch könnt Ihr nachlesen, wie Home von Harry Houdini analysiert und entzaubert wurde.
Spirit photograph taken by Frederick Hudson of Wallace and his late mother in 1882; he may have used double exposure (Public Domain).
Wallace interessierte sich auch für Telepathie, Hellsehen und die Geisterphotographie. 1874 besuchte er den Geisterfotografen Frederick Hudson, er erklärte, dass ein Foto von ihm mit seiner verstorbenen Mutter echt sei. Doch Hudsons Fotografien waren bereits 1872 als Fälschungen entlarvt worden.
Er glaubte, wie damals üblich, an die Existenz des biblischen Gottes und an das Wirken des Heiligen Geistes, obwohl er keiner Konfession angehörte. Er erklärte, dass der Heilige Geist mindestens dreimal in der Geschichte eingegriffen habe: Die Erschaffung des Lebens aus anorganischer Materie, die Einführung des Bewusstseins bei den höheren Tieren und die Entwicklung der höheren geistigen Fähigkeiten des Menschen. Er begann zu behaupten, dass die natürliche Auslese keine Erklärung für mathematische, künstlerische oder musikalische Genialität, metaphysische Überlegungen oder Witz und Humor sein könne.
Für den Rest seines Lebens blieb er davon überzeugt, dass zumindest einige Séance-Phänomene echt waren, trotz Betrugsvorwürfen und Beweisen für Tricksereien. Ober er meinte, dass der Heilige Geist persönlich bei Séancen erscheint, ist mir nicht bekannt. Er stellte Hypothesen darüber auf, dass diese Phänomene möglicherweise auf eine noch unbekannte physikalische Kraft oder Energie zurückzuführen sein könnten. Er argumentierte, dass das Studium solcher Erscheinungen wissenschaftlich legitim sei, auch wenn sie schwer zu erklären waren. Wallace war mit anderen Wissenschaftler*innen im Austausch, die ebenfalls Interesse am Paranormalen hatten. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel und Schriften, in denen er die spiritistischen Phänomene verteidigte und argumentierte, dass sie einer objektiven Überprüfung standhalten könnten. Wallace argumentierte, dass spiritistische Phänomene wie die Kommunikation mit Verstorbenen und die Manifestation von Geistwesen Hinweise auf eine Realität jenseits der materiellen Welt seien. Er sah diese Phänomene als Beweise für die Existenz einer spirituellen Dimension und plädierte dafür, diese auf wissenschaftliche Weise zu untersuchen. Seine Bemühungen brachten ihm jedoch Kritik und Spott von Kolleg*innen ein, die den Spiritismus als unwissenschaftlich und irrational abtaten.
Im Gegensatz zu Darwin, der die Welt eher materialistisch betrachtete, war Wallace der Ansicht, dass die Seele und das Bewusstsein nicht ausschließlich biologischen Prozessen entspringen. Sein öffentliches Bekenntnis zum Spiritismus war für seine wissenschaftliche Karriere sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Einerseits brachte ihm seine Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen und unorthodoxe Fragen zu stellen, Respekt ein. Andererseits wurde er von vielen Wissenschaftlern seiner Zeit kritisch beäugt, und einige seiner früheren Unterstützer wandten sich von ihm ab. Der Biologe Thomas H. Huxley (1825 – 1895), ein Verfechter des wissenschaftlichen Materialismus, der als „Darwins Bulldogge“ bekannt war, lehnte Wallaces Ansichten zum Spiritismus scharf ab. Er äußerte sein Unverständnis und seine Kritik gegenüber Wallaces Interesse an Spiritismus in mehreren Briefen und Kommentaren. In einem Brief schrieb er sinngemäß, dass er Wallace für einen der intelligentesten Menschen hielt, es aber bedauerlich fand, dass er seine Energie und seinen wissenschaftlichen Ruf für den Spiritismus einsetzte. Diese Differenz führte letztlich zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Wissenschaftlern, insbesondere weil Huxley und viele seiner Kollegen glaubten, dass Wallaces Interesse am Spiritismus die Integrität der Evolutionstheorie gefährden könnte. Auch heute noch sind Esoterik und Religion damit beschäftigt, die Integrität der Evolutionstheorie zu gefährden.
Wallace ließ sich von der Kritik jedoch nicht beirren. Er blieb bis zu seinem Tod 1913 ein Verfechter des Spiritismus und veröffentlichte auch weiterhin Arbeiten zu diesem Thema. Er war davon überzeugt, dass der Materialismus nicht die ganze Wahrheit erfassen könne und dass der Spiritismus eine wichtige Ergänzung zur traditionellen Wissenschaft darstellte. Erst nachdem er sich ausgiebig mit dem Spiritismus beschäftigt hatte und von der Echtheit spiritistischer Phänomene überzeugt war, begann er, quasi-religiöse Vorstellungen von der Führung höherer Intelligenzen bei der Entwicklung des menschlichen Geistes in seine wissenschaftlichen Argumente einzubringen.
Der Wissenschaftsautor Terence Hines (geb. 1951) schrieb im 20. Jahrhundert: „Was ist mit den Wissenschaftlern wie Hare oder Wallace, die durch das, was sie bei Séancen sahen, überzeugt wurden? Waren sie inkompetente Wissenschaftler, Dummköpfe oder einfach nur leichtgläubig? Die Antwort lautet nichts von alledem. Sie hatten sich einfach über ihr eigenes Fachgebiet hinausgewagt – ein oft fataler Fehler. Sie gingen, wie ihre Kritiker in der wissenschaftlichen Gemeinschaft davon aus, dass man, wenn man ein guter Beobachter im Labor ist, auch qualifiziert ist, in einer Séance zu beobachten. Aber das ist nicht wahr. Medien waren dafür bekannt, zu betrügen, indem sie die Tricks der Magier ausnutzten, die mit Taschenspielertricks und Ablenkung arbeiten. Magie ist ein Handwerk, das jahrelange Erfahrung und Übung erfordert. Die Ausbildung eines Chemikers, Physikers oder Psychologen verleiht nicht die Fähigkeit, die Tricks der Magier zu erkennen. Um solche Betrügereien zu erkennen, muss man Magier sein.“
Alfred Russel Wallace bleibt eine faszinierende Figur, die die Grenzen zwischen Wissenschaft und Spiritualität überschritt. Sein Interesse am Spiritismus wurde lange Zeit als eine exzentrische Neigung abgetan und überschattete teilweise seine wissenschaftlichen Leistungen. Erst in jüngerer Zeit wird sein spirituelles Interesse im Zusammenhang mit seinem Forschergeist und seiner Skepsis gegenüber dem etablierten wissenschaftlichen Materialismus neu bewertet. Heute sehen viele Wissenschaftshistoriker*innen in Wallace einen Vordenker, der offen war für alternative Erklärungen und der bereit war, sich gegen den intellektuellen Mainstream zu stellen. Doch viele seiner Bemühungen basierten wohl nicht auf der aktuellsten Version des damals verfügbaren Weltbildes.
Smith, C.H. „Alfred Russel Wallace on Spiritualism, Man, and Evolution: An Analytical Essay.“ Wku.edu, 1992, https://people.wku.edu/charles.smith/essays/ARWPAMPH.htm.
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Glaubrecht, M. „Der Mann, der schneller als Darwin war.“ Der Tagesspiegel, 4.11.2013, https://www.tagesspiegel.de/wissen/der-mann-der-schneller-als-darwin-war-6930517.html.
Hemmer, R. & Meßner, D. „Folge 352: Wallace und das Rennen um die Evolutionstheorie.“ Geschichten aus der Geschichte Podcast, 22.6.2022, https://www.geschichte.fm/archiv/gag352.
Jachan, M. „Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie.“ Springer, 2024, https://www.google.com/search?q=978-3-662-69898-3.