
Über den wahrscheinlich bekanntesten Physiker der Welt Albert Einstein (1879–1955) und seine Erfahrungen mit dem Spiritismus könnt Ihr in meinem Buch nachlesen. Er verstarb an den Folgen eines gerissenen Aneurysmas im Princeton Hospital. Hier erzähle ich Euch die verwirrende, wunderliche und inkonklusive Geschichte über sein Gehirn. Sein letzter Wunsch war, dass sein Körper sofort nach seinem Tod eingeäschert und seine Asche an einem unbekannten Ort verstreut werden soll, um jegliche Art von Personenkult zu vermeiden.

Einstein’s brain was preserved after his death in 1955, but this fact was not revealed until 1978; T. Harvey – Original publication: 1956 Immediate source: Personal collection (Fair Use).
Doch dieser Wunsch wurde von seinem Pathologen Thomas S. Harvey (1912–2007) ignoriert. Ohne die Erlaubnis der Familie Einstein entnahm er bei der Autopsie Einsteins Gehirn, um es auf den Ursprung seiner brillanten Intelligenz hin untersuchen zu lassen. Die Autopsie selbst wurde in das Logbuch der pathologischen Abteilung des Krankenhauses eingetragen, doch der Autopsiebericht verschwand nach kurzer Zeit. Man meint, dass ein*e Angestellte*r ihn als Trophäe zuhause hat.
Harvey entnahm auch die Augen, die er Einsteins Augenarzt und Freund Henry Abrams übergab. Abrams meinte später, er selbst sei bei der Autopsie anwesend gewesen und habe die Augen eigenhändig entfernt, wofür er auch die Erlaubnis erhalten habe. Doch Harvey bestritt dies und versichere, dass nur er und Einsteins Nachlassverwalter Otto Nathan (1893–1987) bei der Autopsie anwesend gewesen sind. Es ist wahrscheinlich, dass Nathan bei der Autopsie war, aber ob er die Entnahme des Gehirns und der Augen bemerkte oder genehmigte, bleibt unklar. Ein Gerücht besagt, dass Henry Abrams Einsteins Augäpfel verkaufen wollte, es beinhält auch Michael Jacksons Interesse daran. Viele Jahre später erzählte er, dass er die Augen in einem Schließfach in einem Banktresor aufbewahre. Abrams starb 2009 und die Augen wurden seitdem nicht mehr gesehen.
Zwei Tage nach Einsteins Tod erschien ein Artikel in der New York Times, der ankündigte, dass eine wissenschaftliche Studie kommen werde, die sein Gehirn untersuchen werde und dass am nächsten Tag eine Pressekonferenz von Harvey gegeben werden solle. Doch dazu kam es nicht; es gab auch keine weitere Berichterstattung mehr.
Hans Albert Einstein, Albert Einsteins Sohn, erfuhr von der Entnahme des Gehirns. Mehrere Zeugen meinten, Einstein selbst habe die inoffizielle Genehmigung für die wissenschaftliche Untersuchung seines Gehirns gegeben, obwohl Einsteins Familie dies bestritt. Hans Albert war von der Entnahme nicht begeistert, akzeptierte es jedoch unter der Bedingung, dass das Gehirn ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet werde.
Es hat eine lange Tradition, die Gehirne Hochbegabter zu entnehmen, um sie zu untersuchen. Gleich nach dem Tode des deutschen Mathematikers, Astronomen, Geodäten und Physikers Carl F. Gauß (1777–1855) entnahmen seine ehemaligen Kollegen der Universität Göttingen bei der Autopsie sein Gehirn. Der Physiologe Rudolf F. Wagner (1805–1864) legte es als Ganzes in Alkohol ein und überzeugte Gauß’ Sohn davon, es zur Forschung behalten zu dürfen. Er untersuchte Gehirne von etlichen Berühmtheiten, um damit seinen festen Glauben an den „Dualismus“ des Philosophen René Descartes untermauern zu können. Die sowjetische Wissenschaft untersuchte die Gehirne von z. B. Lenin und Stalin, aber sie dürfte nicht auf der Suche nach Seelen gewesen sein.
Im Weiteren hielt Harvey die Entnahme von Einsteins Gehirn geheim. Er selbst hat keine bedeutenden wissenschaftlichen Arbeiten damit durchgeführt. Er wog es und fotografierte es von allen Seiten, und übergab es danach der begabten Präparatorin Marta Keller von der University of Pennsylvania. Sie schnitt einen Teil in etwa 240 Würfel, die sie in eine Lösung einlegte, um sie zu konservieren und stellte auch histologische Objektträger her „sliced and diced“. In den nächsten Jahrzehnten verteilte Harvey Teile davon an mindestens 18 Forscher*innen in aller Welt, von Alabama bis Argentinien, von Kanada bis Kalifornien, von Hawaii bis Japan. Er transportierte es sogar in einem Glas im Kofferraum seines Autos.
Schließlich geriet der unangenehme Zwischenfall um Einsteins Gehirn in Vergessenheit. 1960 wurde Harvey entlassen. Er zog öfters um und hatte besagtes Gehirn in zwei großen Einmachgläsern immer dabei. Im einen befanden sich die zuckerwürfelgroßen Kuben, im anderen lag der nicht sezierte Rest. Seine Ehe zerbrach, er verlor seine Approbation, denn er versäumte, die obligatorischen Fortbildungen zu absolvieren. Danach nahm Harvey verschiedene nicht-medizinische Jobs an, unter anderem arbeitete er in einer Kunststofffabrik.
1978 wurde Einsteins Gehirn vom Journalisten Steven Levy (geb. 1951) in Harveys Besitz wiederentdeckt. Der Redakteur des Rolling Stone hat eine Biographie über Einstein gelesen, in der es hieß, dass Einstein sein Gehirn zu Studienzwecken konservieren lassen hat und er fragte sich, was damit geschehen ist. Seine Recherche in medizinischen Journalen blieb ergebnislos, also schrieb er Otto Nathan an. Nathan antwortete, dass vielleicht Harvey es entnommen haben könnte. So erhielt Levy den Auftrag, der Sache nachzugehen und im Rolling Stone darüber zu berichten.
Eine Kollegin Levys erzählte, sie habe einen Freund, der Medizin studiere und ein Dia von Einsteins Gehirn gesehen habe. Als Levy ihn kontaktierte, erfuhr er, dass einige Dias von Einsteins Thalamus aus den 1950er-Jahren existieren. Und er erfuhr auch, dass die Analyse dieser Dias keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gebracht hat, was aber auch an der veralteten Präparationstechnik liegen könnte.
Levy wandte sich an die American Medical Association, um Harveys Adresse herauszufinden, und er erhielt seine Anschrift in Wichita, Kansas und konnte seine Telefonnummer bei der Auskunft ermitteln. Harvey gab nur zögerlich zu, dass er derjenige ist, der Einstein seziert hat und noch zögerlicher willigte er ein, zu diesem Thema interviewt zu werden. So flog Levy nach Wichita.
Harvey empfing Levy in einem Labor und erzählte ihm von der Sache. Schließlich bekam Levy die Teile Einsteins Gehirn zu Gesicht. Harvey kramte einen Pappkarton hervor, auf dem „Custa Cider“ aufgedruckt war. Darin war ein großes Einmachglas, worin man eine „rosafarbene, muschelförmige Masse“ sehen konnte. Es enthielt Einsteins Kleinhirn, ein Stück seiner Großhirnrinde und die Hauptschlagader des Gehirns. Harvey holte noch eine gläserne Keksdose mit Metalldeckel, der mit Klebeband abgeklebt war, hervor. Darin befanden sich die Würfel des sezierten Teiles des Gehirns. Levy war wohl recht erstaunt und fragte Harvey, ob er auch etwas gefunden habe, was das Gehirn physiologisch anders erscheinen lässt als ein normales Gehirn? Harvey antwortete „Noch nicht“. Es schien, als ob er immer noch danach strebte, einen wissenschaftlichen Bericht zu veröffentlichen. Das Medieninteresse war riesig. Reporter*innen campierten vor Harveys Haus und Johnny Carson riss in seiner Tonight Show einen Witz darüber.
1994 erschien die recht skurrile BBC-Dokumentation über die Suche des japanischen Naturwissenschaftspädagogen Kenji Sugimoto (1947–2006) nach dem Verbleib von Einsteins Gehirn. Er suchte ebenfalls Harvey auf und bat ihn, ihm ein Stück des Gehirns zu überlassen. Man sieht, wie Harvey mit einem der Einmachgläser in seine Küche geht und ein Stück von Einsteins Gehirn auf einer Käseplatte abschneidet. Abends ging Sugimoto in eine Karaokebar, sang ein japanisches Lied und zeigte dem Publikum seine neueste Eroberung.
1996 ging Thomas Harvey in den Ruhestand und zog nach New Jersey. 1998 versuchte er, Einsteins Gehirn an Einsteins Enkelin, Evelyn Einstein, zurückzugeben. Er reiste nach Berkeley, Kalifornien, um sie zu treffen. Harvey bot ihr die Gläser mit den verbliebenen Teilen des Gehirns an, doch Evelyn nahm diese nicht an. Laut Berichten war sie von dem Besuch überrascht und reagierte nicht besonders erfreut oder interessiert an der Rücknahme des Gehirns.
Sechs Jahrzehnte nach Thomas Harveys verhängnisvoller Entscheidung ist Einsteins Gehirn heute in alle Welt verteilt. 1998 übergab Harvey die restlichen 170 Hirnteile an Dr. Elliot Kraus, dem Chefpathologen des University Medical Center of Princeton, also der Einrichtung, in der es entnommen wurde. Zahlreiche weitere Stücke befinden sich heute in verschiedenen Museen und Universitäten weltweit.
Ab den 1980er-Jahren wurden Untersuchungen veröffentlicht, die versuchten, Besonderheiten in Einsteins Gehirn zu entdecken.
Einsteins Gehirn wog mit 1230 g weniger als ein durchschnittliches menschliches Gehirn mit 1350 g, aber das ist innerhalb der erwartbaren Abweichung. Die erste Studie zum Thema wurde 1985 von Marian C. Diamond (1926–2017) veröffentlicht. Sie ist als eine der Begründer*innen der modernen Neurowissenschaften bekannt, sie und ihr Team erbrachten den Nachweis, dass sich das Gehirn durch Erfahrung verändern kann, was heute als Neuroplastizität bezeichnet wird. Harvey lieferte ihr vier der Gewebekuben, an denen sie die Gliazellen untersuchte. Sie stellte fest, dass insbesondere der Scheitellappen in bestimmten Bereichen einen höhereren Anteil an Gliazellen im Verhältnis zu den Neuronen aufwies. Gliazellen fixieren die Neuronen an ihrem Platz, versorgen sie mit Sauerstoff und Nährstoffen und regeln das Abfallmanagement. Diese Bereiche sind mit den höhereren kognitiven Funktionen verbunden. 1996 veröffentlichte der Neurowissenschaftler Britt Anderson eine Studie über den präfrontalen Kortex Einsteins. Er stellte fest, dass die Anzahl der Neuronen der einer Kontrollgruppe entsprach, aber dass sie dichter gepackt waren, was vielleicht eine schnellere Verarbeitung von Informationen ermöglichte. 1999 analysierte einem Team unter der Leitung der Neurobiologin Sandra Witelson die Fotos des Gehirns und fanden, dass der Scheitellappen um 15 % vergrößert war und nicht durch eine typische Furche abgetrennt war, was Einsteins Fähigkeit zur räumlichen Visualisierung und mathematischen Konzepterfassung beeinflusst haben könnte. Andere konnten das bestätigen und man fand auch ein sehr seltenes Muster von Rillen und Graten in den Scheitelregionen beider Gehirnhälften. Anhand derselben Fotografien und durch den Vergleich mit 25 anderen bekannten Gehirnen fand man einige bisher nicht erkannte ungewöhnliche Merkmale in Einsteins motorischen Kortex. Dazu gehört eine ausgeprägte knopfartige Struktur, das „Omega-Zeichen“, in dem Teil des motorischen Kortex, der die linke Hand kontrolliert, welche dafür bekannt ist, mit musikalischen Fähigkeiten in Verbindung zu stehen. Einstein hatte seit seiner Kindheit eifrig Geige gespielt. Sein Gehirn hat einen zusätzlichen Kamm auf seinem mittleren Frontallappen, dem Teil, der für das Erstellen von Plänen und das Arbeitsgedächtnis zuständig ist. Die meisten Menschen haben drei Kämme, Einstein hatte vier. Die Anthropologin Dean Falk fand 2013 heraus, dass Einsteins Gehirn ein ungewöhnliches dickes Corpus Callosum hat. Dieses Faserbündel verbindet die linke und die rechte Gehirnhälfte, somit könnte Einstein zu einer besseren Zusammenarbeit der Gehirnhälften fähig gewesen sein.
Mit jeder dieser Veröffentlichungen überschlugen sich die Medienberichte, jedesmal aufs Neue hat man den Schlüssel zur Intelligenz gefunden. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Erkenntnisse aus Einsteins Gehirn nie mehr als spekulativ waren. Der Psychologe und Briefmarkensammler Terence Hines meinte, man könne nicht das Gehirn eines*r Briefmarkensammler*in aufschneiden, es mit hundert anderen vergleichen und sagen, man habe das Zentrum des Briefmarkensammelns gefunden. Er nannte die gesammelten Erkenntnisse aus Einsteins Gehirn kurzum „Neuromythologie“. Andererseits kann man sagen, dass es zwar eine natürliche Variation in unserer Hirnanatomie gibt, aber dass Einstein in jedem Hirnlappen ungewöhnliche Merkmale besaß. Doch wir bräuchten viele Exemplare von Gehirnen begabter Menschen, um eine ungewöhnliche Eigenschaft des Gehirns mit einem Merkmal in Beziehung zu setzen.
Obwohl das Forschen an Einsteins Gehirn keine klaren „Geheimnisse der Genialität“ offenbart hat, war die Forschung doch ein wichtiger Impuls für die moderne Neurowissenschaft, die Struktur und Funktion des Gehirns im Hinblick auf individuelle Unterschiede in der Intelligenz genauer zu erforschen. Die ganze Angelegenheit wirft Fragen darüber auf, wie Wissenschaftler*innen mit den Überresten großer Persönlichkeiten umgehen sollten. Ist es gerechtfertigt, den Körper eines Genies für die Forschung zu verwenden, wenn dies gegen dessen Willen geschieht? Oder ist es eine Grenzüberschreitung, die zeigt, wie besessen die Gesellschaft davon ist, außergewöhnliche Intelligenz zu entmystifizieren?
„Einsteins Augäpfel.“ Taz.de, 19.12.1994, https://taz.de/!1528588.
„Relics: Einstein’s Brain (1994).“ BBC, 1994, https://www.youtube.com/watch?v=J8-VjKwbAq8.
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„Einstein’s Brain Was Stolen and Chopped Up Into Tiny Pieces… For Science?!“ Seeker, 28.1.2018, https://www.youtube.com/watch?v=sQgi5Kjvzz0.
Jachan, M. „Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie.“ Springer, 2024, https://www.google.com/search?q=978-3-662-69898-3.