Eleanor Mildred Sidgwick und die Society for Psychical Research

Im Buch Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie (https://www.google.com/search?q=978-3-662-69898-3) präsentiere ich Lebensgeschichten von einigen berühmten Skeptikern und Wissenschaftlern. Gendern ist hier nicht nötig, denn alle Skeptiker und Wissenschaftler, die ich betrachtete, waren Männer. Aus diesem Grund möchte ich hier einige Lebensgeschichten von Frauen präsentieren, die sich ebenfalls um die Wissenschaft und um das kritische Denken verdient gemacht haben.

Im viktorianischen Zeitalter wurde von Frauen erwartet, dass sie entweder heirateten und den Haushalt ihres Mannes führten oder, falls sie unverheiratet blieben, ihre Eltern oder unverheirateten Brüder im Haushalt unterstützten.

Eleanor Mildred Sidgwick (Public Domain).

Eleanor Mildred Sidgwick (Public Domain).

Eleanor M. Sidgwick (1845 – 1936) war eine der einflussreichsten Frauen ihrer Zeit und eine frühe Pionierin in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Spiritismus. Sie war auch Mathematikerin, Wissenschaftlerin und Reformerin. Sie widmete einen Großteil ihres Lebens der Untersuchung paranormaler Phänomene und war eine der führenden Stimmen der Society for Psychical Research (SPR), die sich wissenschaftlich mit spiritistischen Behauptungen und anderen okkulten Phänomenen mehr oder weniger skeptisch auseinandersetzte. Mehr über die teilweise sinnvollen und teilweise unsinnigen Aktivitäten der SPR könnt Ihr in meinem Buch lesen.

Eleanor entstammte einer intellektuell und politisch angesehenen Familie. Ihr Bruder Arthur wurde später Premierminister des Vereinigten Königreichs, ihre Schwester Alice und ihr anderer Bruder Frank waren in der Biologie tätig. Eleanor selbst erhielt eine umfassende Bildung, die für Frauen ihrer Zeit ungewöhnlich war und sie war finanziell unabhängig. Schon früh wurde sie an die euklidische Geometrie herangeführt, und es zeigte sich, dass sie ein hervorragendes Talent für Mathematik hatte – ein Fach, das sie sich weitgehend selbst beibrachte. Ihre Heirat mit dem Philosophen Henry Sidgwick (1838 – 1900), einem Mitbegründer der SPR, führte sie in akademische und philosophische Kreise ein und förderte ihr Interesse am Feminismus und an der wissenschaftlichen Forschung. Sie war nicht nur für ihre Arbeit im Bereich der Parapsychologie und ihren Einsatz für die Bildung von Frauen bekannt, sondern auch für ihre Beiträge zur physikalischen Forschung. Sie half 1882 auch ihrem Schwager, dem Physiker und Mathematiker John W. Strutt, 3rd Baron Rayleigh (1842 – 1919) bei seinen Experimenten zur Messung der Grundeinheiten der Elektrizität. Mit ihm schrieb sie einen Artikel für die Philosophical Transactions of the Royal Society; Rayleigh erhielt 1904 den Nobelpreis.

Die Suffragettenbewegung setzte sich im späten 19. Jahrhundert mit aller Entschlossenheit für das Wahlrecht der Frauen ein. Während die Mehrheit der Aktivistinnen für ihre Rechte auf friedliche Weise kämpfte, gab es auch eine radikalere Gruppe, die gewaltsame Methoden anwendete, um Aufmerksamkeit zu erregen und politischen Druck auszuüben. Es wurden Brandanschläge verübt, es kam zu Vandalismus und Hungerstreiks wurden im Gefängnis eingesetzt, um das Recht der Frauen auf politische Mitsprache zu fordern. Diese Aktionen führten zu Verhaftungen und landesweiten Diskussionen, bis das Wahlrecht für Frauen schließlich ab 1918 durchgesetzt wurde. Sidgwick unterstützte die Sache der Suffragetten, hielt aber nichts von gewaltsamen Protesten. Daher verfolgte sie die Bildung der Frauen und die Bildungsreform im Allgemeinen. Ein Journalist äußerte sich einmal in der Pall Mall Gazette unbedacht: „Intellektueller Erfolg kann von Frauen nur um den Preis des körperlichen Verfalls und der daraus resultierenden Schwächung des Bestands erreicht werden.“ Eleanor organisierte umgehend einen Ausschuss, der sowohl Oxford als auch Cambridge vertrat, und verteilte über 500 Fragebögen an Studentinnen und an deren Schwestern als Vergleichsgruppe. Sie bewertete den Gesundheitszustand der Studentinnen, ihrer Eltern und Kinder, die Schlafdauer und die körperliche Betätigung und legte die Ergebnisse 1890 vor. Die sexistischen Kritiker wurden mit Argumenten zum Schweigen gebracht.

Eleanor Sidgwick trat der SPR kurz nach ihrer Gründung bei und wurde schnell zu einer zentralen Figur der Organisation. 1908 wurde sie zur Präsidentin der Gesellschaft gewählt und 1932 zur Ehrenpräsidentin ernannt. Während viele Mitglieder der SPR offen für die Möglichkeit übernatürlicher Phänomene waren, vertrat sie eine ausgesprochen skeptische Haltung und betonte die Notwendigkeit rigoroser wissenschaftlicher Überprüfung. Ihre Skepsis gegenüber dem Spiritismus entwickelte sich durch ihre genaue Untersuchung der angeblichen Phänomene, die von Medien präsentiert wurden. Eleanor und ihr Mann verbrachten viel Zeit damit, Untersuchungen über Geistersichtungen durchzuführen und im Auftrag der SPR an internationalen Konferenzen über das Paranormale teilzunehmen. Sie führten eine Reihe von Untersuchungen über Halluzinationen durch, die vor allem von Eleanor zusammengetragen und veröffentlicht wurden. Dafür erhob sie Daten von 17.000 Personen.

Als der Biologe Alfred R. Wallace (1823 – 1913) einige Geisterfotografen befürwortete und die SPR bat, Nachforschungen anzustellen, übernahm Eleanor diese Aufgabe. 1891 veröffentlichte sie das Buch On Spirit Photography, in dem die betrügerischen Methoden der Fotografen beschrieben werden, mit denen sie die Hinterbliebenen täuschen. Eine weitere Untersuchung betraf das sogenannte Ektoplasma, eine angebliche Substanz, die Medien während ihrer Séancen materialisierten. Sidgwick und ihre Kolleg*innen konnten nachweisen, dass das Ektoplasma oft aus Stoffresten oder anderen alltäglichen Materialien bestand, die in einem verdunkelten Raum verwendet wurden, um eine übernatürliche Erscheinung zu simulieren.

The Creery Sisters (Copyright Unknown).

The Creery Sisters (Copyright Unknown).

In meinem Buch erzähle ich Euch die Geschichte, wie eine Gruppe junger Mädchen, die Creery Sisters, die Spiritist*innen und Wissenschaftler*innen der SPR zum Narren gehalten haben. Sidgwick war an den Experimenten mit den Creery Sisters beteiligt und stellte Fragen zur Methodik, die letztlich zur Enthüllung der Täuschung führten.

Zu den bemerkenswerten Fällen, die sie untersuchte, gehörten die Sitzungen mit Leonora Piper (1859 – 1950), einem berühmten amerikanischen Medium, das behauptete, in Kontakt mit den Geistern Verstorbener zu stehen. Sie führte Séancen durch, bei denen sie detaillierte Informationen über verstorbene Personen an die Anwesenden weitergab, die sie angeblich nicht auf normalem Wege wissen konnte. Pipers Vorführungen wurden von vielen Anhänger*innen des Spiritismus als Beweis für die Existenz des Lebens nach dem Tod betrachtet. Sidgwick und die SPR führten detaillierte langfristige Untersuchungen durch, um festzustellen, ob Pipers Fähigkeiten authentisch waren oder ob sie auf Täuschung hindeuteten. Sie präsentierte Kontrollpersonen, über die Piper keinerlei Informationen haben konnte. Diese Methode sollte sicherstellen, dass Piper keine unbewussten oder bewussten Hinweise von den Versuchspersonen erhielt. Sie kontrollierte die Umgebung sorgfältig, um sicherzustellen, dass es Piper unmöglich war, auf herkömmlichem Weg Wissen über die Versuchsteilnehmer*innen zu erlangen. Sie stellte fest, dass viele der von Piper übermittelten Botschaften vage, allgemein gehalten oder schlichtweg falsch waren. Sidgwick stellte aber auch fest, dass Piper oft in der Lage war, aus kleinsten, unbedeutenden Informationen, die sie aus dem Verhalten der Versuchspersonen entnahm, scheinbar übernatürliche Einblicke zu gewinnen. In meinem Buch könnt ihr nachlesen, wie der Spiritist und Skeptiker Richard Hodgson (1855 – 1905), der die Schwindeleien von Helena P. Blavatsky (1831 – 1891), der obersten Theosophin, aufdeckte, beinahe auf Pipers Tricks hereingefallen wäre.

Sidgwick hatte großen Einfluss darauf, wie die SPR und andere Organisationen der psychischen Forschung in Zukunft arbeiten würden. Sie stand, wie wir gesehen haben, der physischen Medialität sehr kritisch gegenüber. Sidgwick entlarvte die Medien nicht direkt als Betrüger*innen, sondern kam zu dem Schluss, dass die vermeintlichen Beweise für ihre Fähigkeiten nicht ausreichten, um auf echte spirituelle oder mediale Phänomene zu schließen. In den Jahren 1886 und 1887 entlarvte sie eine Reihe von Veröffentlichungen im SPR-eigenen Journal. Sie verfasste auch den Eintrag über Spiritismus für die Ausgabe 1875-1899 der Encyclopædia Britannica, der wohl etwas zu skeptisch ausfiel. Aufgrund ihrer kritischen Artikel traten einige prominente spiritistische Mitglieder aus der SPR aus. Die SPR gibt es auch heute noch, doch es wird dort kaum mehr skeptisch gearbeitet.

Eleanor Sidgwick war eine herausragende Wissenschaftlerin und Reformerin, und das in einer Zeit, in der es für eine Frau äußerst schwierig war, so etwas zu erreichen. Sie hat durch ihre Beteiligung an der Erforschung der absoluten Werte der grundlegenden elektrischen Einheiten wesentlich zum Fortschritt der Elektrizitätswissenschaft beigetragen. Eine ihrer zentralen Überzeugungen war, dass viele der sogenannten „Beweise“ für übernatürliche Phänomene entweder durch Betrug oder durch Selbsttäuschung erklärt werden konnten. Sie war der Ansicht, dass viele Menschen, einschließlich der Medien selbst, von ihren eigenen Erwartungen und Hoffnungen so stark beeinflusst waren, dass sie die Realität verzerrten. Ihre Skepsis gegenüber dem Spiritismus war besonders stark, weil sie viele Beweise für Betrug in spiritistischen Praktiken fand. Sie wurde von vier renommierten britischen Universitäten, University of Manchester, University of Edinburgh, University of St Andrews und University of Birmingham, mit Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. Diese Ehrentitel würdigten ihre bedeutenden Beiträge zur Förderung der Frauenbildung, ihre wissenschaftliche Arbeit in der Physik sowie ihre führende Rolle in der Society for Psychical Research. Eleanor Sidgwick war nicht nur eine kritische Stimme im Zeitalter des Spiritismus, sondern auch eine Wegbereiterin für Frauen in der Wissenschaft – eine Stimme, die bis heute nachhallt. Ihr Anspruch an methodische Sorgfalt und Transparenz ist auch heute noch ein Vorbild für moderne Skeptiker*innen und Wissenschaftskommunikatorer*innen.  
 
 
Sidgwick, E.M. „Health statistics of women students of Cambridge and Oxford and of their sister / by Mrs Henry Sidgwick.“ Cambridge University Press, 1890, https://wellcomecollection.org/works/c57d5f45.
 
Ruffles, T. „Eleanor Sidgwick and her Doctorates.“ Tomruffles.blogspot.com, 12.10.2010, https://tomruffles.blogspot.com/2010/10/eleanor-sidgwick-and-her-doctorates.html.
 
Watt, V. „From Séance to Science: Eleanor Mildred Sidgwick.“ Koestlerunit.wordpress.com, 17.4.2017, https://koestlerunit.wordpress.com/2017/04/17/from-seance-to-science-eleanor-mildred-sidgwick.
 
Wehrstein, K.M. „Creery Telepathy Experiments.“ Psi Encyclopedia. London: The Society for Psychical Research, 2018, https://psi-encyclopedia.spr.ac.uk/articles/creery-telepathy-experiments.
 
„Eleanor Mildred Sidgwick (1845-1936).“ Exploringsurreyspast.org.uk, 2024, https://www.exploringsurreyspast.org.uk/themes/subjects/womens-suffrage/suffrage-biographies/eleanor-mildred-sidgwick-1845-1936.
 
Jachan, M. „Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie.“ Springer, 2024, https://www.google.com/search?q=978-3-662-69898-3.

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