Da wir uns zuvor um die Anatomie gekümmert haben, ist jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Bisschen Pseudoanatomie. Phrenologie (griech. phrēn ,Geist‘, ,Gemüt‘, ,Zwerchfell‘, ,Körpermitte‘, ,Seele‘) und Kraniologie (lat. cranium ,Schädel‘) bzw. Kraniometrie sind zwei historische Theorien, die sich beide mit dem Zusammenhang zwischen der Struktur des Schädels und der Persönlichkeit, Intelligenz oder anderen geistigen Fähigkeiten befassten. Während Phrenologie und Kraniometrie ähnliche Grundannahmen teilten, gibt es wichtige Unterschiede in ihrem wissenschaftlichen Ansatz und ihrem Einfluss auf verschiedene Bereiche.
Darstellung der Charakteranlagen und Fähigkeiten (Public Domain).
Die Phrenologie ist eine pseudowissenschaftliche Theorie, die im 18. Jahrhundert vom Arzt und Anatomen Franz Joseph Gall (1758 – 1828) entwickelt wurde. Sie behauptet, dass die Form des menschlichen Schädels Rückschlüsse auf die Persönlichkeit, intellektuelle Fähigkeiten und moralische Charaktereigenschaften einer Person zulasse. Gall und seine Anhänger*innen glaubten, dass das Gehirn in verschiedene, für bestimmte Fähigkeiten zuständige Bereiche unterteilt sei, und dass größere oder stärker ausgeprägte Regionen im Schädel auf eine größere Ausprägung dieser Fähigkeiten hinweisen würden. Phrenolog*innen analysieren die Schädeloberfläche auf „Beulen“ und Vertiefungen, um zu bestimmen, welche Bereiche des Gehirns besonders entwickelt oder unterentwickelt waren. Dies führt zu der Annahme, dass Eigenschaften wie Mut, Mitgefühl oder Musikalität an bestimmten Stellen des Kopfes lokalisiert seien. Die Phrenologie erfreute sich besonders in Europa und den USA großer Beliebtheit und wurde häufig als Rechtfertigung für rassistische und sexistische Stereotypen sowie soziale Hierarchien herangezogen.
Historisches Kraniometer (Public Domain).
Ein Teilgebiet der Phrenologie ist die Kraniologie bzw. Kraniometrie, die die Größe, Form und Proportionen des menschlichen Schädels untersucht. Im Gegensatz zur Phrenologie ging es der Kraniologie weniger um Persönlichkeitsmerkmale als um die physischen Eigenschaften des Schädels, um die Evolution und die Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu studieren. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie im Zusammenhang mit rassistischen Theorien populär. Kraniometrische Vermessungen waren in der Anthropologie und Ethnologie noch weit verbreitet, heutzutage finden sie außer bei der Vermessung von tierischen Schädelknochen noch Anwendung in der Archäologie, um Erkenntnisse über die Evolution der menschlichen Spezies zu gewinnen.
Obwohl sie heute als unwissenschaftlich gilt, war die Phrenologie ein früher Versuch, menschliches Verhalten mit biologischen Faktoren zu verknüpfen und trug zur Entwicklung der Neurowissenschaften bei. Die Idee, dass das Gehirn in spezialisierte Regionen unterteilt ist, die spezifische Funktionen steuern, hat sich in der modernen Neurologie bestätigt – allerdings ohne die Annahmen der Phrenologie über Schädelformen zu stützen. Insgesamt war die Phrenologie ein wichtiger, wenn auch irrtümlicher Schritt in der Geschichte der Hirnforschung und Psychologie, der die Notwendigkeit strenger wissenschaftlicher Methodik verdeutlichte.
In der Phrenologie wird angenommen, dass das Gehirn der Sitz der Seele oder des Geistes sei und dass unterschiedliche Bereiche des Gehirns mit verschiedenen seelischen Eigenschaften korrelieren. So wurde beispielsweise angenommen, dass ein ausgeprägtes Temperament oder eine hohe Intelligenz sich in spezifischen Erhebungen oder Vertiefungen des Schädels zeigen würden. In diesem Sinne wurde die Seele als eine Art Produkt der physischen Struktur des Gehirns betrachtet. Phrenologen suchten oft nach dem Beweis für bestimmte seelische Eigenschaften, indem sie die Form und Struktur des Schädels untersuchten. Dies führte zu einer Art Kartenlesen des Schädels, bei dem verschiedene Regionen mit spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen oder emotionalen Zuständen verknüpft wurden. Beispielsweise könnte eine bestimmte Ausbuchtung auf dem Kopf als Indikator für kreative Fähigkeiten oder moralische Eigenschaften angesehen werden. Diese Idee der Zuordnung körperlicher Merkmale zu psychischen Eigenschaften ist ein Versuch, die immaterielle Seele in einem messbaren physischen Rahmen zu verankern.
Franz Joseph Galls Privatvorlesungen waren in Wien äußerst beliebt und seine Schriften zählten zu den meistgelesenen. Doch 1801 verbot Kaiser Franz II. die Privatvorlesungen, da sie „religionsgefährlich“ seien. 1805 verließ Gall Wien und fand in Paris eine neue Anhänger*innenschaar. Seine umfangreiche Schädelsammlung ist heute im Rolletmuseum in Baden zu besichtigen. Sein Schüler Johann Caspar Spurzheim brachte die Phrenologie nach England und in die Vereinigten Staaten.
Joseph Haydn’s skull on the altar of the Bergkirche in Eisenstadt, 1954 (Public Domain).
Phrenolog*innen untersuchen gerne die Schädel Lebender, doch an den Schädeln Toter ist eine detailliertere Untersuchung möglich. So hatte die Wiener Phrenologie großes Interesse am Schädel des berühmten Komponisten Franz Joseph Haydn (1732 – 1809), der der Hauskomponist der Familie Esterházy aus dem ungarischen Eisenstadt war. Haydn starb am 31. Mai 1809 in Wien, kurz nachdem Napoleon Wien belagert und schließlich eingenommen hatte. Er wurde am nächsten Tag in Wien beigesetzt, ohne dass eine angemessene Trauerfeier veranstaltet werden konnte. Acht Tage später haben der Sekretär des Fürsten Esterházy und Haydns Freund Carl Joseph Rosenbaum (1770 – 1829) und der Gefängnisverwalter Johann Nepomuk Peter den Sarg heimlich wieder ausgraben lassen und Schädel von der Leiche abgetrennt und entwendet. Dafür haben sie den Totengräber bestochen. Rosenbaum und Peter hatten ein halbes Jahr zuvor schon, mithilfe desselben Totengräbers, den Schädel der Leiche der berühmten Schauspielerin Elisabeth Roose geraubt.
Die beiden Phrenologen Rosenbaum und Peter erhielten also den gesamten Kopf Haydns, bei dem nach acht Tagen bereits die Verwesung eingesetzt hat. Rosenbaum beschrieb in seinem Tagebuch, dass er sich übergeben hat müssen, als er ihn empfing. Peter entfernte in den nächsten Wochen die Weichteile vom Knochen, um endlich phrenologische Wissenschaft am Schädel eines sehr begabten Musikers machen zu können. Er fand auch den „Tonsinn“ anhand seiner Oberflächenstruktur, genauso wie die Gall’sche Theorie es beschreibt. Schließlich übergab Peter seine gesamte Sammlung von Schädelknochen an Rosenbaum, der den Schädel seines Freundes Haydn auf Samt gebettet zuhause ausstellte.
Erst 1820 zeigten die Esterházys Interesse daran, Haydns Überreste zu exhumieren und nach Eisenstadt zu überführen, um sie gebührlich zu bestatten. Bei der Exhumierung zeigte sich jedoch, dass sein Schädel unter der leeren Perücke fehlte. Zunächst wurden Haydns Überreste ohne Schädel in Eisenstadt erneut beigesetzt.
Für die Wiener Polizei war es nicht schwer, den Täterkreis auf die Phrenologie und die Autopsie einzugrenzen, da deren Interesse an Schädeln allgemein bekannt war. Als sie zu Peters Haus kamen, gestand er, dass der Schädel nun bei Rosenbaum sei. Rosenbaum erwartete die Polizei bereits, aber er übergab ihr den Schädel eines Jugendlichen anstatt Haydns. Als dieser Schädel untersucht wurde, zeigte sich, dass er nicht von einem 77-jährigen Mann stammen konnte. So kam die Polizei erneut zu Rosenbaum, der sich für die Verwechslung entschuldigte und erneut einen falschen Schädel aushändigte. Dieser falsche Schädel wurde dann im neuen Grab Haydns bestattet.
An seinem Totenbett vermachte Rosenbaum den echten Schädel Haydns Peter, der auch den Auftrag erhielt, ihn dem Wiener Musikkonservatorium zu vermachen. Der Schädel wanderte schließlich noch durch etliche Hände, bis er schließlich 1954 vom Wiener Musikverein an die Familie Esterházy zurückgegeben wurde. So liegen heute zwei Schädel in Haydns Grab. Ich lege Euch nahe, Euch die unten genannten Podcast-Folgen anzuhören, die die detailreiche, makabere und verwirrende Geschichte der Wanderung Haydns Schädel erzählen!
Die Phrenologie spielte eine bedeutsame Rolle in der ideologischen Untermauerung von rassistischen Theorien, die später von den Nazis genutzt wurden. Obwohl die Phrenologie bereits im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt hatte, beeinflusste sie die Entwicklung von Ideen zur „Rassenhygiene“ und biologischen Überlegenheit, die im Dritten Reich besonders zentral waren. Die Nazis nutzten verschiedene pseudowissenschaftliche Konzepte, darunter auch Elemente der Phrenologie, um die Überlegenheit der sogenannten „arischen Rasse“ zu begründen. Sie argumentierten, dass Schädelmerkmale wie Form, Größe und Symmetrie Rückschlüsse auf die intellektuellen und moralischen Eigenschaften eines Menschen zuließen, wobei sie solche Merkmale bei ihrer eigenen „Rasse“ als überlegen darstellten. Diese Ideen wurden in Verbindung mit anderen rassistischen Theorien, wie der Eugenik und der Rassenanthropologie, zur Rechtfertigung von Diskriminierung, Zwangssterilisationen und letztlich dem Völkermord an Millionen von Menschen im Holocaust verwendet. Obwohl Phrenologie selbst im wissenschaftlichen Diskurs bereits diskreditiert war, griffen die Nazis auf diese und ähnliche Theorien zurück, um ihre rassistischen und antisemitischen Ideologien zu legitimieren.
Kugler, M. „Falsifiziert: Phrenologie.“ Die Presse, 25.9.2010, https://www.diepresse.com/597245/falsifiziert-phrenologie.
Hemmer, R. & Meßner, D. „Folge 217: Wie Joseph Haydn den Kopf verlor.“ Geschichten aus der Geschichte Podcast, 20.11.2019, https://www.geschichte.fm/podcast/zs217.
Singer, F. „Die mit dem Schädel.“ Darf’s ein bisserl Mord sein?, 30.12.2019, https://www.darfseinbisserlmordsein.com/podcast/episode/5f036860/episode-6-die-mit-dem-schadel.
„Als Haydns Kopf gestohlen wurde.“ Esterhazy.at, 2024, https://esterhazy.at/joseph-haydn/joseph-haydns-werdegang/als-haydns-kopf-gestohlen-wurde.
„Der Gallsche Schädel und die daraus entstandene Phrenologie.“ Leibniz-forschungsmuseen.de, 2024, https://www.leibniz-forschungsmuseen.de/fileadmin/user_upload/Forschungsmuseen/09_Gallscher_Sch\%C3\%A4del_final.pdf.
Jachan, M. „Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie.“ Springer, 2024, https://www.google.com/search?q=978-3-662-69898-3.