Im Buch Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie (https://www.google.com/search?q=978-3-662-69898-3) erkläre ich auch gewisse Aspekte der Statistik – es führt kein Weg daran vorbei. Hier im Blog muss ich dieses Verbrechen wiederholen.
Das Gefangenendilemma ist ein bekanntes Konzept aus der Spieltheorie, das verwendet wird, um die Entscheidungsfindung in Situationen zu analysieren, in denen individuelle Akteur*innen mit gegenseitigen Abhängigkeiten konfrontiert sind. Es beschreibt ein Szenario, in dem zwei Beteiligte unabhängig voneinander entscheiden müssen, ob sie miteinander kooperieren oder einander verraten, wobei jede*r seine*ihre Entscheidung auf Basis des persönlichen Vorteils trifft. Trotz der Tatsache, dass Kooperation beiden Beteiligten am meisten nützen würde, entscheiden sich beide oft gegen die Kooperation, weil dabei das individuelle Risiko zu hoch ist.
Stell dir zwei Personen vor, nennen wir sie A und B, die wegen eines Raubmordes verhaftet wurden. Die Polizei hat jedoch nur genügend Beweise, um sie für den Raub zu verurteilen, nicht aber für den Mord. Um sie des Mordes zu überführen, stellt die Polizei beiden folgendes Angebot, indem beide getrennt verhört werden, sodass sie nicht wissen, wie sich der*die andere entscheidet: Wenn sowohl A als auch B den Mord gestehen, also sich gegenseitig verraten, bekommen beide jeweils fünf Jahre Gefängnis. Wenn A gesteht, also B verrät, aber B schweigt, wird A als Kronzeug*in freigelassen und B bekommt zehn Jahre Gefängnis, und umgekehrt. Wenn aber beide schweigen, also miteinander kooperieren, werden sie nur wegen des Raubes zu jeweils einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Game board depicting the prisoner’s dilemma (game theory) illustrated in Richard Dawkins’s documentary Nice Guys Finish First. (C = Cooperate, D = Defect) (Public Domain).
Man kann das Spielprinzip auch an einem anderen Szenario erklären: Zwei Spieler*innen haben je zwei Karten, auf denen kooperieren (‚cooperate‘) oder abtrünnig werden (‚defect‘) geschrieben steht. In jeder Runde wählt jede*r Spieler*in eine der beiden Karten aus und spielt sie verdeckt, ohne dass das Gegenüber weiß, welche ausgewählt wurde. Wenn beide „cooperate“ ausgewählt haben, dann gewinnen beide je drei Punkte. Wenn beide „defect“ spielten, gewinnen beide nur je zwei Punkte. Wenn aber eine Person „cooperate“ und die andere „defect“ spielte, gewinnt die Person, die „defect“ gespielt hat vier Punkte und die andere Person nur einen Punkt.
Wir erkennen vier konstante Werte, die unser Modell beschreiben und die Wahl der Strategie der Spieler*innen beeinflussen: Steigender Gewinn für beidseitige Kooperation (‚Reward‘) R, welcher in obigen Beispielen R = 3 Goldmünzen bzw. 1 Jahr Gefängnis ist, sorgt für zunehmende gegenseitige Kooperation. Fallender Verlust für beidseitige Defektion (‚Punishment‘) P, 2 Goldmünzen bzw. 5 Jahre Gefängnis, führt zu vermehrter Defektion. Steigende Verlockung für Defektion, wenn der andere kooperiert (‚Temptation‘) T, 4 Goldmünzen bzw. Freispruch, erhöht den Anreiz zur Defektion. Und wenn der Trostpreis für eine fehlgeschlagene Kooperation (der*die andere defektiert) (‚Sucker’s Payoff‘) S; S = 1 bzw. 10 Jahre Gefängnis; nicht zu gering ist, könnte Kooperation wahrscheinlicher werden, da der Verlust durch die Kooperation mit einem*r Verräter*in geringer ist. Für den Moment nehmen wir an, dass T größer als R, R größer als P und P größer als S sei.
Das Gefangenendilemma wurde vom amerikanischen Mathematiker Merrill M. Flood (1908 – 1991) und vom kanadischen Mathematiker Melvin Dresher (1911 – 1992) formuliert. Sie entwickelten das Konzept in den frühen 1950er Jahren während ihrer Arbeit an der RAND Corporation, einer Forschungsorganisation, die sich mit strategischen Problemstellungen, insbesondere im Kontext des Kalten Krieges, befasste. Der Mathematiker Albert W. Tucker (1905 – 1995) ist jedoch derjenige, der diesem Problem seine berühmte narrative Form gab und den Begriff „Gefangenendilemma“ prägte. Tucker entwickelte die Geschichte von zwei Gefangenen, die unabhängig voneinander entscheiden müssen, ob sie ihre*n Kompliz*in verraten oder kooperieren, um das Dilemma anschaulicher zu machen.
Jede*r Spieler*in hat also zwei Optionen, zu schweigen (kooperieren) oder zu gestehen (verraten). Da beide voneinander isoliert sind, wissen sie nicht, wie sich der*die andere entscheiden wird, was zu einem Dilemma führt. Wenn beide rational handeln und nur ihren persönlichen Vorteil im Blick haben, sollten sie verraten, weil das Verraten immer zu einem besseren oder gleichen Ergebnis führt, egal was der*die andere tut. Wenn der*die andere schweigt, kommt man durch Verrat frei. Wenn der*die andere verrät, bekommt man durch ein eigenes Geständnis fünf statt der vollen zehn Jahre. Allerdings führt das rationale Verhalten beider, also wenn beide verraten, zu einem schlechteren Ergebnis für beide, als wenn beide schweigen würden.
Aus der Sicht jedes*r Einzelnen erscheint Verraten die sicherere Option, weil man dadurch entweder freikommt oder die geringstmögliche Strafe erhält, wenn der andere ebenfalls verrät. Doch wenn beide verraten, enden beide in einer schlechteren Situation, als wenn sie kooperiert hätten.
Was jedoch passieren wird, wenn die Haft des*der Verratenen abgelaufen ist, ist in diesem einfachen Modell nicht berücksichtigt, das ist ein Motiv für z. B. Mafiafilme. Omertà, der Ehrenkodex des Schweigens und im Besonderen, Sanktionen nach Verletzung desselben, ist in diesem Spiel nicht mitmodelliert, obwohl Rache ins Spiel kommen kann; siehe unten.
Das Gefangenendilemma illustriert, wie individuelle Rationalität zu kollektiv irrationalen Ergebnissen führen kann. Es wird in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften, Wirtschaft und Politik verwendet, um die Entscheidungsfindung in Konfliktsituationen zu analysieren, in denen individuelle Interessen im Widerspruch zum gemeinsamen Interesse stehen. Unternehmen könnten durch Kooperation bessere Gewinne erzielen, aber der Anreiz, den Konkurrenten zu überlisten, führt oft zu schlechteren Ergebnissen für beide. Länder könnten durch gemeinsame Klimaschutzmaßnahmen globalen Schaden vermeiden, aber der individuelle Anreiz, Emissionen zu reduzieren, ist oft geringer, was zu einer schlechteren globalen Situation führt. Wenn zwei Länder beide ihre Waffenarsenale reduzieren würden, wäre das für beide sicherer. Der Anreiz, weiter zu bewaffnen, weil man annimmt, dass der andere nicht abrüstet, führt oft zu Wettrüsten. Das Gefangenendilemma zeigt eindrucksvoll, wie schwer es ist, Kooperation zu erreichen, selbst wenn sie für alle Beteiligten von Vorteil wäre.
In gewisser Weise standen William Burke und William Hare vor einer Situation, die dem Gefangenendilemma ähnelt, als sie wegen ihrer Beteiligung an den Westport-Morden 1828 verhaftet wurden. Allerdings gibt es einen Unterschied zur klassischen Version des Gefangenendilemmas. Nachdem Burke und Hare durch die Ermordung von mindestens 16 Menschen in Edinburgh verhaftet wurden, standen sie vor der Gefahr, wegen ihrer Verbrechen verurteilt zu werden. Die Behörden hatten zwar Verdachtsmomente, aber keine ausreichenden Beweise, um die beiden zweifelsfrei überführen zu können. Um dies zu ändern, bot die Polizei Hare an, als Kronzeuge auszusagen.
Im klassischen Gefangenendilemma ist die Entscheidungssituation jedoch symmetrisch. Beide Beteiligten wissen, dass sie unabhängig voneinander entscheiden müssen, ob sie kooperieren oder den*die anderen verraten. Jede*r muss abwägen, ob er*sie das Risiko eingeht, dass der*die andere ihn*sie verrät, oder ob er*sie selbst zuerst verrät, um seine*ihre Strafe zu verringern. Im Fall von Burke und Hare gab es jedoch ein asymmetrisches Dilemma. Hare wurde angeboten, als Kronzeuge Immunität zu bekommen, wenn er gegen Burke aussagte. Dieses Angebot stellte Hare vor ein „Gefangenendilemma“, bei dem das Verraten seines Partners für ihn den größten Nutzen hatte. In diesem Fall war die rationale Wahl für Hare, gegen Burke auszusagen, um selbst straffrei zu bleiben. Für Burke gab es kein solches Angebot. Als Hare sich entschied, Burke zu verraten, war Burkes Schicksal besiegelt. Das klassische Dilemma, bei dem beide Seiten die gleiche Wahl haben, zu kooperieren oder zu verraten, bestand für Burke also nicht.
Hare entschied sich für den Verrat, was ihm Straffreiheit gewährte. Auf Basis von Hares Aussage wurde Burke des Mordes überführt, zum Tode verurteilt und im Januar 1829 gehängt.
In der Spieltheorie wird das Gefangenendilemma erst dann interessant, wenn man es öfters als nur einmal spielt. Der Mathematiker John F. Nash (1928 – 2015) entwickelte das Konzept des Nash-Gleichgewichts. Es beschreibt Strategien in nicht-kooperativen Spielen, wobei jede*r Spieler*in genau eine Strategie wählt, von der aus es für keine*n Spieler*in sinnvoll ist, von der gewählten Strategie als einzige*r abzuweichen. In einem Nash-Gleichgewicht ist also jede*r Spieler*in auch im Nachhinein mit seiner*ihrer Strategiewahl einverstanden.
Wenn zwei Spieler*innen das Gefangenendilemma mehrmals spielen und ihnen der Ausgang der vorangegangenen Runde bekannt ist, hängt die optimale Strategie davon ab, ob den Spieler*innen die Anzahl der Runden bekannt ist oder nicht. Wenn das Spielende bekannt ist, lohnt es sich für kooperierende Spieler*innen, erst in der letzten Runde zu verraten, da dann eine Vergeltung nicht mehr möglich ist. Somit wird die vorletzte Runde zur letzten, in der eine Entscheidung zu fällen ist. Durch Induktion folgt, dass das Nash-Gleichgewicht in diesem Fall der ständige Verrat ist. Wenn also beide einander permanent verraten, ist dies die einzige Strategie, bei der durch einen Strategiewechsel kein besseres Ergebnis erzielt werden kann. Deshalb ist ein Spiel mit bekannter Rundenanzahl genauso zu sehen, wie ein Einzelnes.
Wenn das Spiel unendlich oft wiederholt wird, kommt es zu einem anderen Optimum. Es wird möglich, Kooperation in folgenden Runden zu belohnen und Verrat zu bestrafen, was zu höheren „Gesamtauszahlungen“ führt. Man spricht in dem Fall von kalkulativem Vertrauen, bzw. von „Wie du mir, so ich dir“ oder „tit for tat“. Auch die Situation der ewigen Bestrafung nach Verrat (‚Grim Trigger‘) ist zu diskutieren.
Man kann ähnliche Strategien direkt in der Tierwelt beobachten. Viele Vögel müssen zusammenarbeiten, um Zecken an schwer erreichbaren Stellen zu entfernen. Zwei Individuen können zusammenarbeiten und einander helfen, wodurch beide Energie verbrauchen, aber weniger, als wenn man es alleine macht. Beobachtungen zeigen, dass egoistische Vögel, die sich nicht revanchieren, von „Pflegegemeinschaften“ ausgeschlossen werden können. Vampirfledermäuse jagen nachts nach Blut, aber finden mitunter keines. Um den Erfolg der Gruppe zu erhöhen, teilen diejenigen, die Blut finden, es mit denen, die keines gefunden haben, mit der Abmachung, dass sie später den anderen aushelfen. Auch hier sieht man, dass egoistischen Individuen letztlich weniger geholfen wird. Schließlich ist die gesamte Gruppe erfolgreicher, wenn sich ein genetisches Merkmal, das diese Eigenschaft bestimmt, durchsetzen kann.
Spieltheoretiker*innen untersuchten auch, was passiert, wenn die Auszahlungen dynamisch an die Aktionen der Spieler angepasst werden und wie Spieler*innen dazulernen, also, ihre Strategie anzupassen in der Lage sind. In der Praxis sind Überlegungen zu diesem Modell z. B. in der Wirtschaft und der Klimapolitik wichtig. Länder stehen vor der Entscheidung, ob sie ihre Emissionen reduzieren (Kooperation) oder weiterhin hohe Emissionen aufrechterhalten (Defektion). Wenn Länder mehr Anreize (R) für gemeinsame Aktionen gegen den Klimawandel bekämen, könnte Kooperation auf globaler Ebene wahrscheinlicher werden.
Zwei oder mehr Unternehmen in einem Markt können sich zu einem Kartell absprechen. Des dient dazu, höhere Preise verlangen zu können. Es besteht aber die Versuchung, sich durch Preisunterbietung Vorteile zu verschaffen (Defektion). Wenn alle die Preisabsprachen einhalten, profitieren sie gemeinsam von höheren Gewinnen. Doch die Verlockung, die Preise zu senken, um kurzfristig Marktanteile zu gewinnen, ist auch zu berücksichtigen. Das defektierende Unternehmen profitiert kurzfristig, während die kooperierenden verlieren. Wenn mehrere Unternehmen defektieren, sinken die Preise drastisch, und alle verlieren. Die beste Lösung ist immer noch ein halbwegs transparentes System von Regulierungsbehörden, Reputationsmechanismen und Patentschutz.
Oft stehen auch Politiker*innen vor ähnlichen Situationen. Die österreichische Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) hat im Rahmen von Ermittlungen nach Bekanntwerden des „Ibiza-Videos“ auch Hausdurchsuchungen bei TS durchgeführt. Dabei wurde auch sein Handy sichergestellt, was viele neue Ermittlungswege eröffnete. TS hatte zuvor sein Handy auf Werkseinstellungen zurückgesetzt und die Nachrichtendienste gelöscht, aber es konnten mehr als 300.000 Chatnachrichten aus dem Cloud-Speicher und von einer externen Festplatte wiederhergestellt werden. Dies hat einer der größten Staats- und Regierungskrisen der zweiten Republik ausgelöst. Die Staatsanwaltschaft begann, gegen TS, SK und weitere Personen aus dem damaligen Umfeld der VP zu ermitteln. Ein Jahr danach, im Oktober 2022 wurde bekannt, dass TS als Kronzeuge mit der WKStA zusammenarbeiten will. Er legte ein umfassendes Geständnis ab, in der er sich selbst und seine ehemaligen Weggefährt*innen schwer belastete. Ende 2024 gab die WKStA dem Antrag schließlich statt. TS hat auf die Belohnung R = Kanzlerliebe verzichtet und ist bereit, die Verführung T = 1/4 Million Euro Strafe und Gerichtskosten anzunehmen, um einer möglichen Strafe P = wahrscheinlich etliche Jahre Knast zu entgehen. Für die Verratenen, SK und andere, gilt es, den Trostpreis S, also eine mögliche Strafe nach einem Verfahren, zu akzeptieren.
„Nice Guys Finish First.“ AsapSCIENCE, 8.1.2015, https://www.youtube.com/watch?v=rr6lsTgZKAQ.
Weiser, B. „ÖVP im Gefangenendilemma.“ Zackzack.at, 27.10.2022, https://zackzack.at/2022/10/27/oevp-im-gefangenendilemma.
„Das Gefangenendilemma – 5 Beispiele.“ Uni-muenchen.de, 2024, https://www.mathematik.uni-muenchen.de/~spielth/vortraegeopen/Das\%20Gefangenendilemma.pdf.
„Gefangenendilemma-Spiel.“ Hogrefe.com, 2024, https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/gefangenendilemma-spiel.
„Nash-Gleichgewicht.“ Studyflix.de, 2024, https://studyflix.de/wirtschaft/nash-gleichgewicht-in-reinen-strategien-103.
Heisterkamp, L. „Ermittlungen gegen Sebastian Kurz: Vom Kanzlervertrauten zum Kronzeugen.“ Der Spiegel, 7.12.2024, https://www.spiegel.de/ausland/sebastian-kurz-im-fokus-von-ermittlungen-der-kronzeuge-thomas-schmid-podcast-a-5fe35420-6aad-4d75-ad92-30b70eecbd25.
Jachan, M. „Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie.“ Springer, 2024, https://www.google.com/search?q=978-3-662-69898-3.